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Sajdat

Ich kann mich noch erinnern, es waren Flugzeuge und drei sind dann losgeflogen, haben Bomben abgeworfen. Und dann kamen die nächsten drei und die nächsten drei.

Sajdat aus Tschetschenien

Sajdat M. kommt aus einem kleinen Dorf in Tschetschenien, wo sie seit ihrer Kindheit mit Bombardierungen und der ständigen Angst des Krieges konfrontiert war.

„Ich habe sehr viel Angst gehabt, als ich die Fahrzeuge gehört habe. Und da bin ich ins Haus gegangen, und fünf Minuten später haben Panzer genau auf die Stelle geschossen, wo ich gerade eben stand. Alles draußen war zerstört, aber wir haben überlebt, weil wir den Keller hatten. Die Angst während des Angriffs kann man nicht mit Worten beschreiben.“

Auch nach den Kriegshandlungen lebt sie weiter in Angst. Ihr Mann hatte im ersten Tschetschenienkrieg die Rebellen unterstützt und wird deshalb immer wieder von Soldaten inhaftiert und misshandelt.

„Sie sind mehrmals zu uns gekommen, um meinen Mann mitzunehmen. Einmal, als mein Mann nicht da war, haben sie meinen Schwiegervater zusammengeschlagen, damit der erzählt, wo sein Sohn ist. Und einmal hat sich seine Mutter auf die Soldaten gestürzt, als sie ihren Sohn abführen wollten. Da haben die einfach auf sie geschossen und so die Schulter verletzt.
Ich weiß nicht, was sie mit meinem Mann gemacht haben, wenn sie ihn abgeholt haben. Einmal haben sie ihn auf die Müllhalde geschmissen. Wir dachten, dass er nicht mehr lebt, weil er sich nicht rührte, als wir in gefunden haben.“

Sajdat und ihr Mann halten diese ständige Bedrohung nicht mehr aus und entscheiden sich zur Flucht.

„Wir haben beschlossen, dass wir mit unseren Kindern nach Deutschland zu meiner Schwester gehen. Mit einem Schlepper konnten wir über die polnische Grenze. Wir waren so erleichtert, als wir endlich in Sicherheit waren. Meine Schwester hat uns geholfen, und wir haben sofort Asyl beantragt.“

Sechs Monate später kommt die schockierende Nachricht: Der Asylantrag wurde abgelehnt. Sajdat wird mit ihrer Familie nach Polen abgeschoben. Dort treten neue Probleme auf, die für Sajdat zur Dauerbelastung werden: Ihr Mann erkrankt an Tuberkulose, wird aber von den zuständigen Ärzt*innen aus Kostengründen nicht hinreichend versorgt. Dann erkrankt auch noch das jüngste der Kinder plötzlich schwer. Sajdat wartet zwei Wochen lang auf einen Überweisungsschein, ohne den das Kind nicht behandelt wird.

„Die Ärzte haben mir vorgeworfen, dass ich so lange gebraucht habe. Sie haben mich sogar gefragt, ob ich das Kind töten wollte. Aber ich war hilflos, weil ich trotz Betteln den Überweisungsschein nicht früher bekommen habe. Sie haben jetzt Tuberkulose diagnostiziert, und er wird jetzt endlich behandelt.“

Durch weitere problematische Umstände gestaltet sich der Alltag immer stressiger. Die Familie muss plötzlich das Heim verlassen und kann trotz zahlreicher Gelegenheitsjobs den Schulbesuch der Kinder nicht mehr finanzieren. In dieser schwierigen Zeit zerbricht Sajdats Beziehung und sie trennt sich von ihrem Mann. Sie sieht keinen anderen Ausweg, als wieder nach Deutschland zu flüchten und erneut einen Asylantrag zu stellen. Hier fühlt sie sich sicher und hier kann sie sich eine Zukunft für ihre Kinder vorstellen.

„Ich habe sehr viel Angst, dass ich hier abgeschoben werde. Ich weiß nicht, ob ich das noch einmal ertragen könnte. Mein Mann hat mich angerufen und gedroht, dass er mir die Kinder wegnimmt. Nach tschetschenischer Sitte stehen ihm die gemeinsamen Kinder zu. Ich weiß nicht, was mit uns hier passieren wird, aber ich kann nicht mehr zu ihm zurückgehen und nicht nach Tschetschenien.“

Bis heute haben die Bilder des Krieges Sajdat nicht verlassen. Ausgelöst durch bestimmte Schlüsselreize wie zum Beispiel Geräusche von Flugzeugmotoren oder durch Feuerwerk erlebt Sajdat Flashbacks. Sie fühlt sich dann zurückversetzt in die Zeit des Krieges und durchlebt die traumatisierenden Erfahrungen von neuem.
Sajdat weint viel und wird von Depressionen geplagt. Mit Medikamenten verbessert sich ihre Stimmungslage glücklicherweise langsam.

„Als ich hierhergekommen bin, konnte ich mir nicht eingestehen, dass ich krank bin. Ich habe Depressionen und bin traumatisiert. Aber dann war ich hier im Krankenhaus und habe dort nach mehreren Untersuchungen Medikamente bekommen. Es hat etwas gedauert, aber dann halfen die mir sehr. Früher konnte ich nicht fünf Minuten an einem Ort sitzen bleiben. Und jetzt bin ich wieder ruhiger und kann auch manchmal wieder lachen.“

Sajdat macht sich nun aber zunehmend Sorgen, dass sich ihre eigene Verfassung auf die ihrer Kinder niederschlägt, weshalb sie sich auch psychologische Unterstützung für ihre Kinder wünscht.

„Jetzt zum Muttertag hat mein ältester Sohn für mich eine Postkarte gebastelt. Und er hat geschrieben: ‚Für meine Mama, ich werde alles dafür tun, dass meine Mutter nicht mehr traurig ist.‘ Jetzt will ich ihn einer Psychologin vorstellen. Er erzählt mir vieles nicht, was er erlebt hat und was ihn bewegt, weil er mich nicht traurig sehen will. Aber vielleicht redet er mit der Psychologin.“

Bild von StockSnap auf Pixabay

Über Posttraumatische Belastungsstörung

Die in der Öffentlichkeit bekannteste und am meisten beachtete Traumafolgestörung ist die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS oder PTSD).
Voraussetzung für die Vergabe dieser Diagnose ist die Konfrontation mit einem oder mehreren traumatischen Ereignissen, wie z. B. Tod, schwerer Verletzung, sexueller Gewalt oder einer Androhung dieser Gewalttaten. Betroffene müssen diesem Erlebnis nicht direkt ausgesetzt sein, auch das indirekte Erleben, das Erleben als Augenzeug*in oder die Konfrontation mit Details von traumatischen Ereignissen genügt, um dieses sogenannte Eingangskriterium zu erfüllen.

In Folge der traumatischen Ereignisse zeigen Betroffene u.a. folgende Symptome:

  • Wiedererleben: Unerwartetes, intensives Wiedererleben in Form von Bildern, filmartigen Szenen oder Albträumen, aber auch Körperempfindungen und Gerüchen. Diese Flashbacks können durch sogenannte „Trigger” oder auch Schlüsselreize ausgelöst werden, etwa durch Gerüche, Farben, Geräusche oder andere Reize, die an die traumatische Situation erinnern. Diese Flashbacks lösen unerwartet extreme Angst oder Dissoziationen aus. Betroffene durchleben mitunter das traumatisierenden Erlebnis erneut.
  • Übererregung: Traumatisierte Personen zeigen oftmals ein dauerhaft erhöhtes Stress- und Anspannungslevel. Durch die erhöhte Anspannung schlafen die Personen meist sehr schlecht. Schlafstörungen verstärken wiederum die erhöhte Reizbarkeit, die sich bei manchen Betroffenen auch in Wutausbrüchen und hoher Konfliktbereitschaft äußern kann.
  • Vermeidung: Gedanken, Gefühle, Orte, Situationen und Gespräche, die die Betroffenen an das traumatische Erlebnis erinnern, werden vermieden. Die traumatisierten Personen gehen all diesen Reizen aus dem Weg, manche ziehen sich zurück. Sie erscheinen emotional abgeschottet, freud- und teilnahmslos bis hin zu entfremdet gegenüber der eigenen Familie und Freund*innen.

Diese Symptome wirken sich auch stark auf die Anhörung im Asylverfahren aus. Trauma führt dazu, dass Erinnerungen nicht chronologisch, geordnet und detailliert im Gedächtnis gespeichert werden. Sie sind meist bruchstückhaft, fragmentiert, und teilweise können wichtige Aspekte (Zeitpunkte, Namen oder genaue Daten) gar nicht erinnert werden. Insbesondere unter Stresssituationen werden Aussagen oftmals unvollständig und widersprüchlich abgegeben, was wiederum die Glaubwürdigkeit im Anhörungsverfahren mindert.

Die Psychosozialen Zentren sind häufig die einzigen Anlaufstellen, die Menschen wie Sajdat auffangen können. Mit einer Spende hilfst du mit, diese Unterstützung auch zukünftig anbieten zu können!

 

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